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Kapitel 2

„.. kann bei übermäßiger Einnahme zu Halluzinationen im realen Raum, zu Demenzstörungen oder häufig auftretenden Schwindelanfällen führen. Bei wenigen Fällen tritt auch eine langfristige charakterliche Veränderung auf, welche nicht mehr behoben werden kann. Auf Grund der stark dosierten Psychopharmaka ist davon abzuraten entweder mehr als 2 pro Woche, geschweige denn mehr als 3 in einem Monat zu nehmen. Andernfalls ist eine psychische Erkrankung auf Dauer nicht auszuschließen. Empfohlen ab 16 Jahren..“
Nichts. Nichts was auf Kaps außergewöhnliches Erlebnis einen Hinweis geben würde. Gut, er hatte mehr als 3 Eier in einem Monat zu sich genommen, aber da war er lange nicht der einzige in seinem Umfeld. Das scheint momentan ein immer größer werdender Trend zu sein. Wie, nur 2 in diesem Monat – also ich hatte ja mindestens 5 – und schon bist du raus, einfach nicht im Trend, nicht mit der Masse. Ja, ja Hank, der hat immer mindestens 4 oder 6 jeden Monat. Dafür ist er bekannt. Leider bin ich im Gegenzug dafür bekannt der Freund des doch so erfolgreichen Gedankenreiters zu sein. „Der freund des…“ – lächerlich, das kann Kap auch langsam nicht mehr hören. Nochmals liest er den Beilagenzettel genauer durch und entdeckt ein kleines Sternchen am Rand des Textes. Auf den ersten Blick erkannte er nichts außer eine wirren Aneinanderreihung verschiedenster Buchstaben und Glyphen. Hatt dies womöglich etwas mit seinem außergewöhnlichen Gedankenritt zu tun? Er wird unruhig, fast zittrig und bekam schwitzige Hände. Nachdem er sich langsam auf dem Boden seines Zimmers niedergelassen hat, versucht er es nun erneut. Er reißt sich zusammen und schaut erneut genauer hin. Nein. Das kann nicht klappen, so etwas hat er noch nie gesehen. Gut, schließlich findet er sich damit ab, dass er einfach nicht das nötige Wissen hat, um diese Botschaft entschlüsseln zu können. Hilfe muss her und er hat auch schon eine Vermutung wer dafür in Frage kommt.
Er fliegt nur so mit seinem Blick über die einzelnen Zeilen des Beilagenzettels und lässt sich mit einem leichten Seufzer zu Kap auf den Boden fallen. Hank ist alles sonnenklar.
„Ja logisch, das ist eine der Urschriften des Volkes der Lom aus dem ich stamme.“ Kaps angespannte Haltung mitsamt Gesichtsmuskeln lockert sich augenblicklich und macht einem breiten, erhellenden Grinsen platz. Erleichterung macht sich breit.
„Dann kannst du mir also sagen, was dort geschrieben steht?“
„Nein, leider bin ich nicht dazu in der Lage die Urschrift zu sprechen, geschweige denn zu lesen. Sie wird seit einigen Jahrzehnten nicht mehr in den Schulen gelehrt und in den bis heute bestehenden Völkergruppen auch nicht mehr gesprochen. Nach der Trennung der Bewohner von Helica beschlossen die Lom einen der Hauptbestandteile ihrer Kultur neu aufleben zu lassen und den Alten in der Vergangenheit zu lassen. Sie formten also eine neue Sprache und vergaßen die Ursprache, um mit dem schmerz der Vergangenheit besser umgehen und abschließen zu können.“
„Und diese Sprache sprichst du nicht?“ – „Nein.“
Kap überfliegt nochmals die einzelnen Zeilen Wort für Wort in der Hoffnung zumindest ein Quäntchen zu verstehen. Vergebens.
Er beschließt den Weg einzuschlagen, den er eigentlich für die nächste Zeit vermeiden wollte.
Sein Kopf schmerzt. Ungewöhnlich.
„Ich habe eine Bitte an dich, mein Freund. Es führt leider kein Weg dran vorbei, als dich zu fragen, ob du für mich nochmals Kontakt zu deinem Volk aufnehmen kannst. Ich brauche ihre Hilfe.“
Vor einigen Wochen wäre dies eine vollkommen überflüssige Frage gewesen, denn Hank war natürlich immer und jederzeit dazu bereit einen Gedankenritt anzutreten. Wenn einer, dann Hank. Doch ihn hat der Vorfall mit seinem besten Freund mitgenommen und er hat sich vorgenommen erstmal keine Ritte mehr anzutreten. Keiner nimmt nunmehr leichtfertig ein Baddo-Ei zu sich. Jeder rechnet mit einer Wiederholung der Geschehnisse. Hank wirkt ersichtlich angestrengt, versucht jedoch seine zweifelhaften und ängstlichen Gedanken durch lockeres Pfeifen zu verbergen. Das ist typisch Hank. Er versucht in jeder Lebenssituation stark und tapfer zu bleiben.
Kap entschließt kurzer Hand dazu in den Wald zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Zu Beginn des nächsten Tages treffen sie sich wie gewohnt unten am Flussbett zur täglichen Waschroutine mit den anderen Männern am Rand des Dorfes unterhalb der Felswände. Nachdem alle Arbeit erledigt ist, zeigt Hank wortlos auf seine linke Brusttasche, welche Kap ohnehin schon aufgefallen war. Kap entdeckt die Wölbung und ihm ist sofort klar, was Hank dort verbirgt. „Wir werden es versuchen, mein Freund.“, stößt Hank mit fester Stimme hervor. Kap nickt nur wohlgesonnen und ist von Dankbarkeit erfüllt. Gleichzeitig ist ihm jedoch immer noch mulmig zumute, dass er seinen besten Freund dazu verleitetet hat noch einmal einen Gedankenritt anzutreten, wo er doch selbst solche Angst diesbezüglich verspürt.
Die Wettervorraussetzungen sind wunderbar. Der Himmel ist klar, die Sonne scheint auf sie herab und sie spüren ihre leicht wohlige Wärme auf ihren nackten Oberkörpern.
An der Lichtung inmitten des Waldes angekommen setzen sie sich gegenüber auf zwei Holzstämme und vergewisseren sich wortlos mit einem kurzen tiefen Blick über das nun anstehende Ereignis. Ja, sie sind sich sicher. Kap überreicht Hank die Anleitung mit dem kleinen Hinweis den es zu übersetzen gilt. Beiden ist es nach wie vor ein wenig mulmig zumute als Hank kurzerhand das Ei schluckt und sich nach hinten fallen lässt. Als ihn ein kurzes Zucken durchfährt weiß Kap, dass Hank nun in seinen Gedanken davon reitet. Das Ziel ist ganz klar definiert.
Die Gelegenheit Hank so eingehend und genau während eines Rittes zu beobachten hatte Kap bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gehabt. Binnen weniger Sekunden werden alle Glieder hart und ungelenk. Dass Kap sich damals bei seinem letzten Gedankenritt stark gewendet und gedreht hatte, entspricht also nicht den normalen Umständen. Hank wirkt nun entspannt und fast schon zart, wie er mit den Armen auf seinem Bauch rücklings auf dem Wiesenboden der Waldlichtung liegt. Kap bemerkt seine Augen, welche sich gegensätzlich zum sehr gleichmäßigen, ruhigen Atem nervös und zuckend unter den Lidern hin und her bewegen. Er scheint also erfolgreich am Ziel angelangt zu sein und verarbeitet durch die Augenbewegungen die vielen Eindrücke die er nun in diesem Moment bekommt. Die Zeit während eines Rittes vergeht deutlich rasanter als im wahren Leben. Eine Sekunde in Echtzeit sind an die 100 Sekunden im Rausch des Baddo-Eies. Diese Tatsache ermöglicht natürlich eine Reihe von Erfahrungen, die in Echtzeit normal nicht zu tätigen wären. Die längste Zeitspanne, die man im Rausch sein sollte beträgt maximal 20 Minuten. Forscher suchen zwar seit längerer Zeit nach einer Möglichkeit dieses Zeitfenster zu erweitern, bis jetzt jedoch ohne Erfolge. Der Gedankenritt fordert natürlich mehr körperliche Ressourcen, als gewöhnlich und schwächt den Körper erheblich.
Kap bemerkt wie Hank Schweißperlen über die Stirn laufen und er plötzlich seine Augen unter den Lidern auf reist ohne jene zu öffnen. Besorgt kniet er über ihm und legt ihm ein mit Wasser getränktes Tuch auf die schweißbedeckte Stirn in der Hoffnung seinen Freund ein wenig zu beruhigen. Es scheinen von Unruhe und Hektik gefüllte Ereignisse vor sich zu gehen. Kap fängt ebenfalls ein wenig an, ins schwitzen zu kommen und legt sich kurzerhand neben Hank auf den Boden. Schuldgefühle und Ängste plagen Ihn. Er versucht nun ganz ruhig zu bleiben und einen positiven Gedankenfluss zu bekommen. In diesem Moment kehrt Hank sich mit einem Ruck zu Kap um und schlägt Ihm mit voller Wucht und geballter Faust mit der rechten Hand ins Gesicht und mit der linken Hand in die untere Magengegend. Völlig perplex und schmerzverzerrt zieht sich Kap zusammen und versucht sich aus der Gefahrenzone zu ziehen. Was war geschehen? Er ringt nach Luft. Sein Hals scheint sich vor Schmerz zusammen zu ziehen. Sein Magen pocht und sein Gesicht quillt an, als Hank zum nächsten Angriff ausholt. Kap richtet sich auf.
Er bemerkt Hanks veränderten Gesichtsausdruck. Dieser ist nun nicht mehr ruhig und friedlich sondern aufgewühlt und beinahe aggressiv. Sein Gesicht ist zu einer angsteinflössenden Grimasse verzerrt und seine gesamte Haut übersäht von roten Flecken, die Hank bekam sobald er unter stress gesetzt ist. Kap versucht sich zu sammeln. Er rennt los, schaut sich jedoch immer wieder um, um sich zu vergewissern, dass Hank ihm nicht folgt. Er braucht Hilfe. Hank ist nicht mehr Hank in diesem Zustand. Er scheint gesteuert, fast schon mechanisch. Schneller. Renn schneller. Geschafft.
(Autor: Julia Schmitz, Düsseldorf)

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